Montag, 23. Juni 2008
"Exil im Niemandsland" von Roberto Bolaño

Unter den lateinamerikanischen Autoren der ersten Generation nach dem Boom – nach Garcia Marquez, Vargas Llosa, Cortazar und Fuentes – ist in Europa niemandem, abgesehen vielleicht von Isabel Allende, ähnliche Beachtung zuteil geworden wie Roberto Bolaño. In Chile geboren, lebte er bis zu seinem frühen Tod 2003 in allen möglichen Ländern. Bekannt wurde er mit Die Naziliteratur in Amerika, einem pseudoenzyklopädischen Werk über sämtlich fiktive Autoren und deren Werke.

Der Schriftsteller im Exil – über dieses Phänomen konnte Bolaño aus eigener Erfahrung schreiben, und das tut er in einigen der hier versammelten Texte, jedoch nicht ohne zu betonen, dass er „das, was man gemeinhin Exil nennt“ – nicht ganz freiwillig in einem fremden Land zu leben – „in Wahrheit nicht als solches empfand.“ Bolaños eigentliche Emigration begann lange bevor er aus Chile wegging, als er begriff, dass er die ganze Welt kennen lernen konnte, ohne seine vier Wände zu verlassen, und zwar, indem er immer wieder seinen „eigenen Rekord der an einem Tag gelesenen Seiten“ schlug, wie es in Erinnerungen an Los Ángeles heißt „Wahrscheinlich beginnt für uns Schriftsteller und Leser eine bestimmte Art von Exil, wenn wir die Kindheit hinter uns lassen“ erklärt er, und: „Die Heimat des wahren Schriftstellers ist seine Bibliothek, die aus Regalen oder aus seinem Gedächtnis besteht.“

Sie ist das Niemandsland, von dem im Titel die Rede ist, und sie ist das wahre Thema dieser nun in einem schmalen Band versammelten Texte, die als Fragmente einer Autobiographie – so der Untertitel – Mosaiksteine zu einem Selbstportrait dieses Schriftstellers abgeben.
Bei vielen der Texte handelt es sich um Auftragsarbeiten, die Bolaño für Zeitungen verfasste oder für Kongresse, zu denen er eingeladen war. Es sind Reden, Reisebilder, Essays und ein Interview, entstanden in den letzten Jahren seines Lebens, während derer er sich in dem spanischen Städtchen Blanes niedergelassen hatte. Hier hatte er eine Art Wahlheimat in der Wirklichkeit gefunden, die ihm zuerst in einem Roman Juan Marses begegnet war, so dass Bolaño, wenn er über Blanes schreibt, eigentlich einen literarischen Ort im Kopf hat.
Ähnlich verhält es sich mit Patagonien und auch mit Berlin. Bolaño erzählt, wie er dorthin zu einer Lesung eingeladen war. „Ich war in einem riesigen Herrenhaus am Wannsee untergebracht, dem See in einem Vorort Berlins, wo sich Heinrich von Kleist 1811 das Leben nahm zusammen mit der bedauernswerten Henriette Vogel, die tatsächlich wie ein Vogel war, aber ein hässlicher, stiller Vogel, einer jener Vögel, die ohne die Flügel ausbreiten zu müssen, an den Pforten zur Finsternis, zum Unbekannten sitzen. Ich hielt mich damals für jemanden, der mit Kleist nicht viel zu tun hatte.“ Doch in den frühen Morgenstunden meint er, vom Fenster seines Zimmers Kleists Geist am Ufer des Sees zu erblicken. So wie hier gleitet in diesen Prosastücken immer wieder der sachliche Ton, in dem sie beginnen, ins Literarische hinüber, verwandelt sich die Realität ins Phantastische.

Darin liegt eine Faszination des Buches: Es enthält nichtfiktionale Prosa und doch ist sein Wahrheitsgehalt ungewiss, erscheint die Wirklichkeit oft überreal. Auch der Autor selbst wird zu einer literarischen Figur und hält Zwiesprache mit anderen Dichtern, mit Klassikern genauso wie mit Unbekannten und Vergessenen, dem Lyriker Rodrigo Lira etwa, „der wie so viele andere lateinamerikanische Dichter starb, ohne etwas veröffentlicht zu haben“, und von dem Bolaño dennoch zu glauben versucht ist, „er sei der letzte Dichter Chiles gewesen, einer der letzen Dichter Lateinamerikas.“ Von dem griechischen Dichter Archilochos, der im siebten vorchristlichen Jahrhundert lebte, über Lichtenberg und Swift bis zu Borges und Philip K. Dick reicht die Galerie der Autoren, die Bolaño zitiert und über die er als Leser schreibt, nicht als Kritiker.
Die Texte spiegeln Bolaños eigene Leseerfahrungen wieder, Bücher verbinden sich mit Orten, Situationen und Eindrücken. „Die Bücher, an die ich mich am besten erinnern kann, sind die, die ich im Alter zwischen sechzehn und neunzehn Jahren in den Buchhandlungen der mexikanischen Hauptstadt geklaut und diejenigen, die ich während der Tage vor und nach dem Putsch in Chile gekauft habe, als ich zwanzig Jahre alt war“ bekennt er in Wer traut sich. In Spaziergang durch die Literatur begegnet er abschließend vielen Autoren, die er bewundert und gekannt hat, noch einmal im Traum, oder besser gesagt: in auf wenige Sätze zusammengedrängten Traumbeschreibungen. „Mir träumte, ich sei fünfzehn Jahre alt und auf dem Weg zu Nicanor Parra, um mich zu verabschieden. Ich fand ihn aufrecht gegen eine schwarze Wand gelehnt. Wo gehst du hin, Bolaño?, fragte er. Weit weg aus dem Süden, erwiderte ich.“

von Andreas Martin Widmann


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Roberto Bolaño: Exil im Niemandsland.
Fragmente einer Autobiogrphie
Tres, 2000. Entre paréntesis, 2004
Aus dem Spanischen von Kirsten Brandt u. Heinrich v. Berenberg.
Berenberg Verlag, Berlin 2008
160 S. EUR 19,90
ISBN 978-3-937834-26-9

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